Ein neuer PISA-Schock muss durchs Land gehen
Die Corona-Pandemie hat bei den Kindern und Jugendlichen große Lernlücken hinterlassen. Doch nicht erst seit Corona weisen die schulischen Leistungen in Deutschland einen deutlichen Negativtrend auf. Weil die erlernten Kompetenzen und Fähigkeiten die Grundlage unseres zukünftigen Wohlstands sind, muss dringend ein neuer PISA-Schock durchs Land gehen.
Aktuelle Studien zeigen, dass die schulischen Leistungen der Kinder hierzulande in der vierten Klasse zwischen einem viertel und einem halben Schuljahr hinter das Niveau von vor fünf Jahren zurückgefallen sind. Das sind drastische Rückgänge in den erlernten Fähigkeiten, die sich sowohl beim Lesen und Schreiben als auch beim Rechnen zeigen. Zum Teil spiegeln sie die Folgen der Corona-Pandemie und ihrer Schulschließungen wider. Von diesen waren Kinder aus benachteiligten Verhältnissen besonders stark betroffen. Aber auch Kinder aus besser gestellten Verhältnissen weisen deutliche Rückstände auf. Dennoch gibt es in Deutschland weiterhin keine klare Strategie, wie die Lerndefizite flächendeckend wieder aufgeholt werden können.
Aber der Rückgang ist nicht nur eine Folge von Corona. Schon seit etwa 2010 weisen die Testleistungen deutscher Schülerinnen und Schüler einen deutlichen Negativtrend auf. Nach dem PISA-Schock, der uns Ende 2001 vor Augen führte, dass Deutschland im internationalen Vergleich nur unteres Mittelmaß war, war ein Ruck durchs Land gegangen. Die schulischen Leistungen hatten sich über einen Zehnjahreszeitraum deutlich verbessert – um rund ein Dreiviertel dessen, was Schulkinder normalerweise in einem Schuljahr lernen. Doch bis 2019 haben wir rund 60 Prozent des vorherigen Anstiegs wieder verloren. Der Verlauf der deutschen Testleistungen ergibt ein „trauriges Smiley“: Der Trend ging zunächst rauf, dann wieder runter.
„Lernverluste zerstören Lebenschancen für die Einzelnen, und sie verringern das Wirtschaftswachstum und damit das zukünftige Wohlstandsniveau unserer Gesellschaft.“
Auch aus wirtschaftlicher Sicht ist der Rückgang in den schulischen Kompetenzen und Fähigkeiten ein Desaster – sowohl für die betroffenen Kinder als auch für unsere Volkswirtschaft insgesamt. Denn die ökonomische Forschung belegt deutlich, dass diese Kompetenzen die Basis unseres wirtschaftlichen Wohlstands sind. Deshalb zerstören die Lernverluste Lebenschancen für die Einzelnen etwa in Form von geringeren Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommen. Und sie verringern das Wirtschaftswachstum und damit das zukünftige Wohlstandsniveau unserer Gesellschaft.
Deshalb muss ein neuer PISA-Schock durch unser Land gehen! Die Verbesserung der schulischen Ergebnisse muss in Politik, Bildungsverwaltung, Schulen und Familien oberste Priorität haben. Als Gesellschaft müssen wir einen vollen Fokus auf die Lernergebnisse legen und dringend wieder einfordern und sicherstellen, dass alle Kinder und Jugendlichen in unserem Land die benötigten Basiskompetenzen vermittelt bekommen. Die ersten zehn Jahre nach dem ersten PISA-Schock haben ja gezeigt, dass stetige und deutliche Verbesserungen möglich sind.
Vergleichbares Abitur wird gebraucht
Ein wichtiger Aspekt der Konzentration auf Lernleistungen besteht darin, die Bildungsqualität durch jährliche deutschlandweite Tests zu sichern. Einheitliche Zwischen- und Abschlussprüfungen würden die Schülerleistungen in allen Bundesländern transparent machen und die Möglichkeit bieten, dort anzusetzen, wo am meisten Handlungsbedarf besteht. Beispielsweise sollten in einem gemeinsamen Kernabitur die Prüfungsaufgaben in den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch in allen Bundesländern einheitlich gestellt werden. Ähnlich sollten gemeinsame Prüfungen auch in den anderen Schulabschlüssen und in früheren Jahrgangsstufen das Erreichen der Lernziele verbindlich messen.
Derzeit sprechen alle über Fachkräftemangel und wie man mit mehr Arbeitsstunden oder späterem Renteneintritt Löcher stopfen kann. Eine offensichtliche und nachhaltige Lösung wäre aber, in die Kompetenzen der nachkommenden Generationen zu investieren.
Dieser Blogpost erschien zuerst als Gastbeitrag im Solinger Tageblatt:
Autor:
Prof. Dr. Ludger Wößmann ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik am Münchner ifo Institut.