Deutschland blickt bang in die USA – Ist Bidenomics eine Gefahr für Europa?

Während Deutschland zum konjunkturellen Schlusslicht Europas wird, herrscht in Amerika Aufbruchstimmung. Die wirtschaftliche Dynamik ist seit der Corona-Pandemie in den USA ungebrochen. So liegt das US-amerikanische BIP um 6 Prozent über dem Vorkrisenniveau, während es in Deutschland immer noch darauf beharrt.

Die Inflation in den USA befindet sich mit 3 Prozent auf dem Rückzug, während sie in Deutschland mit 6,5 Prozent hartnäckig über dem Durchschnitt des Euroraums verbleibt. Auch die restriktive Geldpolitik der US-Notenbank Fed sowie eine technische Rezession im ersten Halbjahr 2022 konnten der US-Wirtschaft bisher nicht wirklich etwas anhaben. Die Arbeitslosenrate liegt in den USA auf einem historischen Tiefstand von 3,6 Prozent. Was erklärt diese gute Entwicklung in den USA? Für viele ist es die Wirtschaftspolitik des amtierenden Präsidenten: Bidenomics. Der Begriff ist zum Schlagwort für Joe Bidens milliardenschwere Standortpolitik geworden. Ökonomen setzen sie mit moderner Angebotstheorie gleich, bei der das Wirtschaftswachstum angekurbelt werden soll, indem sowohl das Arbeitskräfteangebot als auch die Produktivität gesteigert wird und gleichzeitig Ungleichheit und Umweltschäden verringert werden.

Vom Rostgürtel zum Technologiestandort

Die USA hatten bereits während der Corona-Pandemie historische Fiskalpakete verabschiedet. Biden machte mit dem American Rescue Programm da weiter, wo sein Vorgänger Donald Trump mit dem Cares Act aufgehört hatte. Zusammen genommen machen die Fiskalausgaben der US-Regierung etwa 5 Trillionen US-Dollar oder 25 Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts aus: eine gewaltige Summe – um genau zu sein: eine 5 mit 18 (!) Nullen. Jenseits dieser Konjunkturpakete geht es Biden vor allem darum, die USA wirtschaftlich stärker, gerechter und nachhaltiger aufzustellen. Gleichzeitig behält er im Kern die America First-Ausrichtung von Trump bei. Seine Build Back Better- Agenda dient vor allem als Stärkung der heimischen Industrie und der arbeitenden Mittelklasse. Im Gegensatz zu Trump verzichtet Biden bei seiner Fiskalpolitik auf Steuersenkungen zugunsten der Wohlhabenden. Stattdessen betreibt er mit dem Inflation Reduction Act (IRA) eine expansive Fiskalpolitik mit gezielten steuerlichen Anreizen für Investitionen. Mit einem umfangreichen staatlichen Investitionsprogramm will er zudem die teils marode Infrastruktur wieder auf Vordermann bringen. Damit scheint er etwas zu erreichen, was Trump nur angekündigt hatte: Eine Renaissance der US-amerikanischen Industrie. Vor allem im Verarbeitenden Gewerbe verzeichnen die USA gerade einen Investitionsboom. Unter Trump lagen die Investitionen (ohne Bausektor) bei 75 Milliarden Euro jährlich, mittlerweile haben sich diese mehr als verdoppelt und liegen bei fast 200 Milliarden Euro in diesem Jahr. Der IRA steht dabei sinnbildlich für eine Aufbruchstimmung in den USA, die gleichzeitig die Angst in Deutschland vor der Deindustrialisierung verschärft. Der IRA soll ungefähr 370 Milliarden US-Dollar mit einem Schwerpunkt auf grünen Zukunftstechnologien mobilisieren. Da die Steuererleichterungen im IRA nicht gedeckelt sind, könnten die finalen Fördersummen auch deutlich größer ausfallen. Bereits Ende 2021 wurde der Infrastructure and Investment Jobs Act verabschiedet, im August 2022 unterzeichnete Biden den IRA und auch den Chips Act, der die Halbleiterbranche fördern soll. Zusammengenommen bieten die Fiskalprogramme Hunderte von Milliarden Dollar an öffentlichen Investitionen, Subventionen, Zuschüssen und Krediten, um neue Investitionen in Breitbandnetze, Halbleiter, Elektrofahrzeuge und Batterien zu fördern.

There is no free lunch – Risiken von Bidenomics

Bidenomics birgt aber auch Risiken. So wurde der IRA als inflationsdämpfende Maßnahme angepriesen, weil das Paket deutlich höhere Steuereinnahmen vorsieht, mit denen das staatliche Defizit verringert werden soll. Vor allem ist der IRA aber ein Klimapaket, dessen positive Effekte auf die Inflation im besten Fall mittelfristig wirken. Hinzu kommt: Das Wirtschaftswachstum der vergangenen beiden Jahre war stark kreditfinanziert und zeigt angesichts der nun höheren Zinsen inzwischen Risse: Zum einen entstand eine nachfragegetriebene Inflation, die Biden durchaus in den Wahlen im November 2022 hätte treffen können. Viele Amerikaner trauten ihm keine effektive Wirtschaftspolitik zu. Tatsächlich verloren die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Zum anderen haben die vielfältigen Fiskalprogramme die Staatsverschuldung um 17 Prozentpunkte auf 134 Prozent im Pandemiejahr ansteigen lassen. Aktuell liegt die Schuldenstandquote immer noch bei über 120 Prozent. Auch deshalb hat die Ratingagentur Fitch den USA die begehrte Spitzenbonität von „Triple A“ (AAA) entzogen und auf AA+ gesenkt. Fitch rechnet mit einem deutlichen Anstieg des US-Staatsdefizits in den nächsten Jahren. Vor allem die höhere Zinslast und die Ausgabeninitiativen wie der IRA seien dafür verantwortlich. Das könnte die prognostizierten hohen Ausgabenvolumina des IRA zukünftig begrenzen. Es zeigt auch, dass die angenommenen Wachstumseffekte von kreditfinanzierten öffentlichen Investitionsausgaben auf wackeligen Beinen stehen. Hinzu kommt: Auch die USA haben einen Fachkräftemangel. Es wird große Kraftanstrengungen brauchen, geeignetes Personal zu finden. Die dynamische Lohnentwicklung und niedrige Arbeitslosenraten deuten klar auf Engpässe hin. Eine Industriepolitik, die nationale Champions hervorbringen soll, ist in der Vergangenheit schon oft gescheitert. Zudem ist sie teuer und birgt das Potenzial, über höhere Steuern längerfristig der US-Wettbewerbsfähigkeit zu schaden.

Deindustrialisierung in Europa

Das von der Energiekrise gebeutelte Europa reagierte reflexartig mit der Ausrufung eines eigenen Industrieprogramms im Rahmen des vorher schon bestehenden Green Deals. Dabei subventioniert Europa klimafreundliche Technologien, unter anderem durch das Wiederaufbauprogramm NextGenEU, ebenfalls in großem Umfang. Die offerierte Subventionshöhe ist also nicht der entscheidende Unterschied. Die bestehenden Energiepreisunterscheide fallen viel stärker ins Gewicht bei den Standort- und Investitionsentscheidungen. So zeigen sich bereits erste Anzeichen für einen verstärkten Abfluss von Direktinvestitionen aus Deutschland. Mindestens so wichtig wie die Subventionshöhe ist der unbürokratische Zugang zu den Fördermitteln. Die USA machen hier einen besseren Job, sind weniger kleinteilig und kompliziert als die EU. Was oft in den Hintergrund gerät: Die wirtschaftlichen Auswirkungen auf Deutschland waren anfangs sogar wachstumsfördernd. Im Ergebnis stabilisierten die US-Fiskalprogramme das deutsche BIP im Jahr 2021 und 2022 – vor allem weil die deutschen Exporte deutlich zunahmen. Die USA sind der wichtigste Abnehmer deutscher Produkte. Im Jahr 2022 gingen Waren im Wert von historisch hohen 156 Milliarden Euro dorthin.

Deutschland braucht ein neues Wachstumsmodell

Statt angsterfüllt über den Atlantik zu schauen, sollte Deutschland sich auf eine kohärente Standort- und Angebotspolitik besinnen. Es fehlt nicht an der Nachfrage, sondern an adäquaten Rahmenbedingungen, die Produktion und Investitionen hierzulande attraktiv machen. Deutschland ist mit hohen Unternehmenssteuern, ausufernden Sozialabgaben, hohen Lohnstückkosten und den deutlich gestiegenen Energiekosten ein Hochkostenland. Diese Wettbewerbsnachteile können auch nicht mehr durch frühere Standortvorteile bei Infrastruktur und Fachkräften wettgemacht werden, zumal sich hier inzwischen zunehmend Schwächen zeigen. Gerade in der Transformation braucht es Planungssicherheit. Diesen Eindruck vermittelt die Ampel-Regierung nicht. So sind nach Jahren der Krisenpolitik wiederkehrende Schuldzuweisungen an das enge wirtschaftliche Korsett der deutschen Schuldenbremse zu kurz gegriffen. Die öffentliche Investitionstätigkeit könnte statt über Sondervermögen durch eine Verschiebung der Prioritäten im Haushalt stimuliert werden. Fast 90 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Investitionen in Deutschland werden aber privat erbracht. Um diese anzukurbeln, bedarf es einer längst überfälligen Unternehmenssteuerreform. Die Letzte liegt über 15 Jahre zurück. Unternehmen in der Bundesrepublik zahlen mittlerweile knapp 29 Prozent an Steuern im Durchschnitt. Das sind ganze zehn Prozentpunkte mehr als der EU-Durchschnitt aufbringt. Anstatt dem Subventionswettlauf mit anderen Großmächten zu folgen, wäre eine Verbesserung der Rahmenbedingungen in Deutschland sowie eine Stärkung des Binnenmarktes in Europa geeigneter, um im globalen Wettbewerb gut mithalten zu können.

Autor:

Dr. Thomas Obst ist Senior Economist für Auslandskonjunktur und makroökonomische Modellierung im Themencluster Globale und regionale Märkte beim Institut der Deutschen Wirtschaft. Er hat Lehraufträge für Makroökonomie an der Universität Siegen und der Hochschule Pforzheim.

Datum:
Themen:

Das könnte Sie auch interessieren