Bürgergeld: Falsches Signal statt notwendiger Reformen

Aus Arbeitslosengeld II soll zum Jahreswechsel das Bürgergeld werden. Dem notwendigen Reformbedarf trägt die Änderung ungenügend Rechnung. Was wir nämlich brauchen, sind bessere Anreize, Beschäftigung aufzunehmen.

Eine neue Leistung namens Bürgergeld soll das Arbeitslosengeld II als Grundsicherung ablösen. Dabei sollen die Voraussetzungen, die für einen Anspruch auf die neue Leistung erfüllt sein müssen, geringer ausfallen als bei der alten Leistung.

Am auffälligsten wird dies bei der „Vertrauenszeit“ genannten Karenzzeit für die Verhängung von Sanktionen. In den ersten sechs Monaten des Bürgergeldbezuges sollen Pflichtverletzungen nicht sanktioniert werden können. Lediglich Terminversäumnisse sollen mit einer Sanktion von 10 Prozent des Regelsatzes – künftig rund 50 Euro – belegt werden können. Auch nach Ablauf der sechs Monate führt eine Pflichtverletzung zunächst nur zu einem Ende der „Vertrauenszeit“, nicht aber unmittelbar zu einer Sanktion.

Die „Vertrauenszeit“ ist aus drei Gründen zu kritisieren:

Erstens verändert sie das Grundverständnis, das bisher für die Grundsicherung galt: Menschen, die sich nicht selbst helfen können, haben Anspruch auf die solidarische Hilfe der Gesellschaft. Im Gegenzug schulden sie das Bemühen, künftig ohne diese Hilfe auszukommen. Diese eher milde Form der Reziprozität dürften die meisten Menschen als gerecht empfinden. Wenn künftig – zumindest vorübergehend – das Bemühen um ökonomische Selbstverantwortung nicht mehr glaubhaft eingefordert werden kann, wird die Forderung nach Eigenbemühungen zu einer eher unverbindlichen Bitte und die Balance zwischen Geben und Nehmen wird gestört.

Zweitens ist aus der Arbeitsmarktforschung bekannt, dass Sanktionen ihren zugedachten Zweck erfüllen – sie führen zu einer schnelleren Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Bernhard et al. (2021, 11) fassen den Forschungsstand folgendermaßen zusammen: „Sanktionen entfalten bei den Betroffenen durch eine im Schnitt beschleunigte Aufnahme einer Erwerbstätigkeit intendierte Wirkungen.“ Zweifellos können sie auch Nebenwirkungen haben, zum Beispiel einen vollständigen Rückzug vom Arbeitsmarkt für einige Gruppen. Die Nebenwirkungen können indes keine (temporäre) Abschaffung der Sanktionen begründen. Vielmehr legen sie nahe, dass die Verhängung einer Sanktion mit einer Intensivierung der Betreuung einschließlich gegebenenfalls notwendiger Förderung einhergehen sollte.

Drittens wird – im Einklang mit weiteren geplanten Karenzzeiten für die Prüfung von Vermögen und die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft – ein fatales Signal gesetzt, nämlich dass sich Bezieher von Bürgergeld Zeit lassen können mit Eigenbemühungen und sich in aller Ruhe erst einmal im System einrichten können. Nichts könnte falscher sein als das. Die Neuzugänge im Bürgergeld-Bezug sind in vielen Fällen bereits länger arbeitslos, womöglich ist bereits Langzeitarbeitslosigkeit eingetreten. Weitere Vermittlungshemmnisse wie qualifikatorische Defizite oder körperliche Einschränkungen treten hinzu. Für diese Gruppe kommt es auf jeden Tag des Verbleibs in Arbeitslosigkeit an, weil sich die Chancen auf Wiedereingliederung im Zeitablauf rapide verschlechtern.

Fazit

Statt den Beziehern des Bürgergeldes zu signalisieren, dass ihre Wiedereingliederung in Arbeit keine Eile hat, sollten die Anreize verbessert werden, eine Beschäftigung aufzunehmen. Hier bestünde tatsächlich dringender Reformbedarf. Zwar stellen sowohl die geltende als auch die künftige Gestaltung des Erwerbsfreibetrages sicher, dass Erwerbstätige – unabhängig von der Höhe des erzielten Einkommens – über ein höheres Einkommen verfügen als Personen, die ausschließlich von der Grundsicherung leben. Doch die Anreize begünstigen in erster Linie die Aufnahme einer geringfügigen oder allenfalls Teilzeitbeschäftigung. Die Anreize für eine Vollzeitbeschäftigung sind denkbar gering, obwohl das Ziel der Sozialpolitik darin bestehen sollte, dass Erwerbstätige einen möglichst großen Teil ihres Bedarfes aus eigener Kraft erwirtschaften. Vorschläge zur Reform liegen seit Jahren vor (Schäfer, 2019), doch der Gesetzentwurf zum Bürgergeld bleibt in dieser Frage deutlich hinter den Erwartungen zurück und vertagt eine weitergehende Reform auf später.

Literatur

Bernhard, Sarah/Mario Bossler/ Thomas Kruppe/Torsten Lietzmann/Monika Senghaas/Gesine Stephan/Simon Trenkle/Jürgen Wiemers/Joachim Wolff. 2021. Vorschläge zur Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende und weiterer Gesetze zur sozialen Absicherung. IAB-Stellungnahme (5). Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Nürnberg.

Schäfer, Holger. 2019. Einkommen aus Erwerbstätigkeit und SGB II-Leistungen. Fehlanreize und Reformoptionen. Kurzgutachten. Institut der deutschen Wirtschaft: Berlin.

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Autor:

Holger Schäfer ist Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beim Institut der deutschen Wirtschaft.

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