Adieu Marx, bienvenue Piketty!
Die Deutschen sind, gemessen an der Zusammensetzung des Geldvermögens und der Anzahl der Aktionäre, ein Volk der Sparkontobesitzer, deren Vermögen hauptsächlich durch zähe Ersparnisbildung, aber kaum durch Rendite wächst. Kein Wunder, dass die Deutschen – als G3-Volkswirtschaft – beim Pro-Kopf-Geldvermögen im Ranking des Allianz Global Wealth Report abgeschlagen auf Platz 19 landen. Und während über die letzten 10 Jahre Dänen und Kanadier ca. 90 ihres Geldvermögenszuwachses aus Wertzuwächsen ihrer Kapitalanlage erzielten, hatten die Deutschen Mühe, mit dem Wertzuwachs auch nur die Inflation zu schlagen. Und trotzdem sind sie, was die Mehrung der Geldvermögensbildung betrifft, auf einem Spitzenplatz. Daraus folgt: Die Deutschen arbeiten für ihr Geld, statt ihr Geld für sich arbeiten zu lassen. Das Gesamtbild sieht nach einem späten Sieg von Karl Marx aus. Als dieser 1845 mit dem Kapitalisten Friedrich Engels „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ beschrieb, prägt er ein Paradigma, von dem wir uns bis heute nicht erholt haben: Die Wirtschaftswelt teilt sich in „gierige“ Kapitalisten auf der einen und arme, „ausgebeutete“ Proletarier auf der anderen Seite. Dabei öffnete die erste Börse 1602 in Amsterdam ihre Pforten, lange vor der Veröffentlichung von Marx und Engels. Zeit genug also, dass sich die „Proletarier“ selbst am „Kapital“ beteiligen. Über Wertpapiere.
Gerade mit Blick auf die Ungleichheitsdebatte ist es höchste Zeit, „Adieu Marx“ und „Willkommen Piketty“ zu rufen. Thomas Piketty? Ja genau, den Autor des Buches „Capital in the Twenty-First Century“, das 2014 wie eine Bombe einschlug. Begeistert gefeiert von den einen, bekämpft von den anderen, beschreibt das Buch entlang Pikettys „fundamentalen Gesetzen des Kapitalismus“ eine – aus seiner Sicht – zwangsläufige Kapitalakkumulation, welche die Vermögenskonzentration immer weiter vorantreibe und mir ihr die Ungleichheit.
Dabei sind Pikettys „fundamentale Gesetze“ übersetzt in die Sicht der Kapitalmärkte gar nicht so neu. Verkürzt lassen sie sich zusammenfassen in einer einfachen Grundprämisse, die nicht nur theoretisch, sondern auch historisch gut belegt ist: Wer bereit ist, mehr Risiken einzugehen, kann auf mittlere und längere Sicht eine Mehrrendite in Form einer „Risikoprämie“ erwarten. Und diese Mehrrendite, in Kombination mit dem Zinseszinseffekt, ist einer der Treiber der Vermögensungleichheit. Anders ausgedrückt: Wer sein Geld nur auf dem Sparkonto hat, braucht nicht zu erwarten, dass sein Vermögen in gleicher Geschwindigkeit wächst wie von jemanden, der in unternehmerisches Kapital investiert und damit Arbeitsplätze, Innovation und Wachstum ermöglicht.
Beispiel gefällig? Angenommen, Ihr Ur-Ur-Ahne hätte 1801 einen US-Dollar in US-Treasuries investiert (dies ist der längste Zeitraum am Aktien- bzw. Anleihemarkt mit qualitativ guten Daten, der mir zur Verfügung steht). Bei einer geometrisch gemittelten Rendite von 3,27 % p.a., unterstellter Wiederanlage und ohne Steuerabflüsse wären daraus am Rentenmarkt bis Ende 2024 rechnerisch 1.309 US-Dollar geworden. Wessen Ur-Ur-Ahne allerdings einen Dollar in US-Aktien investiert hätte, dem stünden heute mehr als 3,6 Mio. US-Dollar zur Verfügung, und er hätte im Schnitt der Jahre eine Rendite von 7,01 % erzielt. Mit zwei Ausnahmen wäre jeder Anlagezeitraum über 30 Jahre (was als plausibler Ansparzeitraum für die Altersvorsorge gesehen werden kann) seit 1801 bis heute für Aktien rentierlicher gewesen als für Anleihen, aber auch diese hätten positiv abgeschnitten. „Kasinokapitalismus“ sieht anders aus.
Piketty wirklich ernst zu nehmen und Vermögensbildung zu fördern, dafür ist es nie zu spät:
Die geplante Frühstartrente ist Zukunftssicherung pur. Zehn Euro, über zwölf Jahre in Kinderdepots angelegt, erbringen unglaublich viel: Aktiensparen in frühen Jahren ist finanzielle Bildung durch learning-by-doing. Und gerade im Feld der finanziellen wie ökonomischen Bildung hat Deutschland noch großen Nachholbedarf. Der Zinseszinseffekt wird mit dem Renditetreiber von Aktieninvestitionen verbunden. Das ist ein früher, sehr wichtiger Baustein für die Vermögensbildung, aus dem schnell mehr werden kann, wenn das Geld nicht mit 18 verfrühstückt wird. Was das frühe Einzahlen bedeutet, verdeutlicht folgende Rechnung: Werden ab dem Alter von sechs Jahren über zwölf Jahre monatlich je zehn Euro eingezahlt und das investierte Geld bis Ende 66 zum Renteneintritt nicht angerührt, werden bei einer unterstellten Rendite von 8 % daraus mehr als 37.000 Euro. Wird erst zum 18. Geburtstag begonnen um dann bis zum Ende des 29. Lebensjahres ebenfalls 1.440 Euro zu investieren, ergäben sich nur 18.000 Euro. 37.000 mögen für ein langes Leben, auch in Anbetracht der Inflation, zunächst gar nicht so viel sein, aber: Der Anfang ist gemacht. Besteht erst einmal ein Depot kann es fortlaufend aufgefüllt werden. Mit Geldgeschenken, eigenem Einkommen, oder Beiträgen, die sonst in die gesetzliche Rentenkasse fließen würden.
Denn jeder, der heute in die gesetzliche Rente verpflichtend einzahlen muss, könnte privates Kapital aufbauen. Mehr Netto vom Brutto heißt auch hier die Lösung. Die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zur gesetzlichen Rentenversicherung belaufen sich auf zusammen 18,6 % des Bruttoeinkommens (Stand: 2025). Würde es den Arbeitnehmern schrittweise ermöglicht, ihre Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu reduzieren und diese (auf freiwilliger Basis) in eine kapitalgedeckte, private Vorsorgelösung zu investieren, könnten sie unmittelbar eigenes Vermögen aufbauen, da ihre Sparfähigkeit steigt. Sie könnten eine höhere Rendite erwarten und gleichzeitig würde die Ungleichheit sinken, denn was bei der Diskussion über Vermögensungleichheit übersehen wird, ist, dass diese durch die gesetzliche Rente akzentuiert wird.
Tatsächlich wird mit den Rentenbeiträgen kein eigenes Vermögen gebildet, es entstehen vielmehr nur Ansprüche, deren Erfüllung dem politischen Prozess unterliegt. Werden die tatsächlich vorliegenden Vermögen um Vermögensäquivalente erweitert, die sich als Barwerte der erworbenen Anwartschaften und Bezüge aus umlagefinanzierten und kapitalgedeckten Sicherungssystemen errechnen, sinkt der Vermögens-Gini – ein Ungleichheitsmaß – um rund 22 % von knapp 0,8 auf rund 0,6.
Ein einfacher, kostenfreier Schritt wäre es auch, die Riester-Rente zu vereinfachen. Entfällt die Garantie der Beiträge, kann der Renditeturbo zugeschaltet werden. Garantien kosten Rendite. Umsonst gibt es nichts, auch nicht an den Kapitalmärkten. Sie könnte dann auch der Heimathafen für die Gelder werden, mit denen die Deutschen ihre eigene Altersvorsorge aufbauen, indem sie weniger in die gesetzliche Rente zahlen.
Und zu allem gehört: Bildung. Finanzielle und ökonomische Bildung sind eine wichtige Voraussetzung für Teilhabe und (politische) Mündigkeit. Wer seine Finanzen nicht versteht, von dem kann kaum erwartet werden, dass er richtig investiert. Wer ökonomische Grundfragen nicht kritisch durchdenken kann, wird ein leichtes Opfer für (wirtschafts-)politischen Populismus. Damit aber wird ökonomische Bildung relevant für unsere Demokratie.
Wer Kapitalbildung in breiter Hand der Bevölkerung fördert, senkt die Ungleichheit, fördert die Altersvorsorge und betreibt Populismus-Prophylaxe: Wohlstand muss Wohlstand für alle bedeuten – auch per privater Vermögensbildung. Wenn „substanzielle Teilgruppen der Gesellschaft das Gefühl haben, dass sie von der bestehenden Gesellschaftsordnung keine Vorteile erwarten können, … dann verlieren die bestehenden demokratischen Institutionen … Legitimität“, stellt der Ökonom Tim Krieger fest. Mit Vermögen und Humankapital wächst „das Interesse an einem stabilen institutionellen Gefüge“.
Kapitaleinkommen in Zeiten der Disruption
Und noch etwas ist wichtig: Wir leben in hoch disruptiven Zeiten. Niemand vermag abzuschätzen, was die smarten Algorithmen und die humanoiden Roboter für Arbeit und Arbeitseinkommen bedeuten. Wäre es da nicht schlau, das Arbeitseinkommen würde durch Kapitaleinkommen ergänzt? Um im Duktus von Marx und Engels zu bleiben: Die „Proletarier“ müssten dann weniger ihre Haut zu Markte tragen und sich weniger vor neuen Technologien fürchten. Denn Letztere brauchen wir dringend in Anbetracht der demografischen Entwicklung.
„Das Methusalemkomplott“ (Frank Schirrmacher) läuft ab wie ein Uhrwerk. Seit Jahren scheiden in Deutschland jedes Jahr mehr Menschen aus dem Arbeitsleben aus, als neue dazustoßen. In diesem Jahrzehnt sind es jährlich ca. 400.000 Erwerbstätige, die dem Arbeitsmarkt verloren gehen – und die sich auf einen immer länger werdenden Ruhestand freuen dürfen. Ein heute 67-jähriger Rentner kann erwarten, noch knapp 17 Jahre zu leben. 2050 soll der Wert laut Schätzungen der Vereinten Nationen bei knapp 20 Jahren liegen. Eine Frau von 67 Jahren hat heute bereits eine derart hohe Restlebenserwartung, bis 2050 soll diese auf gut 22 Jahre steigen. Einkommen aus eigenem Kapital wäre da höchst willkommen.
Das eigentliche „fundamentale Gesetz“ der Kapitalanlage lautet: Wer weniger Ungleichheit, mehr Unabhängigkeit von einer staatlichen Rente und eine zukunftsfestere Altersvorsorge möchte, wer die Demokratie stärken will, muss privaten Vermögensaufbau mit renditeträchtigeren Anlageformen – also mit Kapitalbeteiligung – wollen. Es ist an der Zeit, die private Kapitalbildung politisch zu fördern.
Autor:

Dr. Hans-Jörg Naumer ist Director Global Capital Markets & Thematic Research bei Allianz Global Investors. Autor und Herausgeber mehrerer Bücher. U.a.: „Vermögensbildungspolitik: Wohlstand steigern – Ungleichheit verringern – Demokratie stärken.“ Und „CSR und Mitarbeiterbeteiligung“.