100 Tage neue Bundesregierung – Politikwechsel für den Wirtschaftsstandort leider noch nicht in Sicht 

Die neue Bundesregierung ist 100 Tage im Amt. Traditionell der Moment für eine erste Bilanz. Aus marktwirtschaftlicher Perspektive fällt diese leider negativ aus. Zwar hat die Wirtschaft nach dem Überwinden des Ampel-Chaos kurzfristig Hoffnung geschöpft, was sich an steigenden Stimmungsindikatoren ablesen ließ. Doch die Regierung konnte diese Hoffnung noch nicht mit konkretem Handeln bestätigen.

Betrachtet man alleine ihr Handeln, muss man festhalten:  

Erstens: Die bisherigen Maßnahmen haben den Wirtschaftsstandort nicht entscheidend gestärkt. Zweitens: Die aktuell von der Regierung vorangetriebenen Projekte sind eher schädlich. Drittens: Die Stellen des Koalitionsvertrages, die den Standort stärken könnten, wurden bislang kaum konkret aufgegriffen.  

Es wird Zeit, dass der versprochene Politikwechsel sichtbar wird. Sonst wird auch diese Bundesregierung eine, die Mängel verwaltet, teilweise vergrößert – und dabei kostbare Zeit und viel Geld in Form von Schulden verliert. 

Im Einzelnen:  

Bundesministerium für Arbeit und Soziales 

Die neue Ministerin Bärbel Bas tritt bislang vor allem als Rentenministerin auf. So wurde das Rentenpaket, das den Nachhaltigkeitsfaktor bis 2031 aussetzen soll und die Mütterrente III zum Gegenstand hat, auf den Weg gebracht. Beides bedeutet allein bis 2040 zusätzliche Kosten von 200 Mrd. Euro und verschärft auf diese Weise die demografische Schieflage des Rentensystems. Statt das System gezielt nachhaltig zu stabilisieren, wird der Eindruck vermittelt, als könnte das Umlageverfahren auch in Zukunft leisten, was es in der Vergangenheit geleistet hat. Die Konsequenz: Es wird aus einem Gefühl falscher Sicherheit zu wenig privat vorgesorgt.  

Wichtig wäre hingegen, offenkundigen Frühverrentungsanreize (Rente mit 63, zu geringe Abschläge für einen vorgezogenen Renteneintritt) abzuschaffen. Zusätzlich müssten die Belastungen fairer zwischen Alt und Jung aufgeteilt werden, in dem z.B. das Renteneintrittsalter ab 2031 mit der Entwicklung der Lebenserwartung im Verhältnis 2:1 gekoppelt wird. Von einem Jahr längeren Lebens würden 8 Monate gearbeitet und 4 Monate Rente bezogen. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes hieße das, dass alle zehn Jahre das Renteneintrittsalter um etwa sechs Monate steigt – es hieße also auf absehbare Zeit explizit nicht die „Rente mit 70“, gegen die von manchen polemisiert wird. Ein solcher Schritt ist unausweichlich und lässt sich auch nicht durch die Idee der „Aktivrente“ vermeiden, auf die sich die Koalition in ihrem Vertrag geeinigt hat. Diese kann dazu beitragen, dass Menschen neben der Rente mehr arbeiten. Sie löst aber nicht das Problem, dass wir Deutschen gemessen an unserer Altersstruktur zu früh in Rente gehen. 

Als weiteres wichtiges Projekt hat Frau Bas vor der Sommerpause das Tariftreuegesetz auf den Weg gebracht. Dieses führt faktisch zum Ausschluss der meisten Mittelständler von Auftragsvergaben des Bundes und für die verbliebenen Interessenten zu deutlich mehr Bürokratie. Durch das verknappte Angebot wird es für den Staat teurer und durch die zusätzliche Bürokratie ebenfalls. Wie so viele Gesetze der letzten Jahre verfolgt auch dieses ein auf den ersten Blick gutes Ziel und ist im Einzelnen nur in gewissen Grenzen schädlich – vor dem Hintergrund der nach wie vor anhaltenden Wirtschaftskrise wirkt es aber aus der Zeit gefallen. In Summe behindern all diese Regeln wirtschaftliche Aktivität massiv. Stattdessen bräuchte es ein umfassendes Belastungsmoratorium – und Regelungsrückbau. 

In das Ressort von Frau Bas gehören gleichzeitig einige Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag, die durchaus das Potenzial hätten, den Wirtschaftsstandort zu stärken. So wäre es wichtig, das Arbeitszeitgesetz wie vereinbart von täglicher auf wöchentliche Höchstarbeitszeit umzustellen. Mehrarbeit soll erklärtermaßen attraktiver werden durch steuerliche Förderung von Überstundenzuschlägen sowie Arbeiten neben der Rente. Auch braucht es dringend Erleichterungen bei der Fachkräftezuwanderung durch schnellere Anerkennung der Abschlüsse über die geplante digitale „Work-and-stay-Agentur“. Genauso muss das Bürgergeld wie im Koalitionsvertrag vereinbart abgeschafft werden und durch eine angemessene Grundsicherung ersetzt werden. Um sich hier unnötigen Streit zwischen den Koalitionären zu ersparen, wäre es ein pragmatisches Vorgehen, schlichtweg zu den alten Hartz-IV-Regeln zurückzukehren. Diese hatten sich über viele Jahre bewährt. Von all dem ist bislang leider nichts konkret aufgenommen worden. Für die Rente wurde die nächste in einer bereits durchaus langen Reihe von Expertenkommissionen angekündigt. Dabei mangelt es nicht an Erkenntnissen, sondern entschlossenem Handeln. Das Umlageverfahren muss wie beschrieben strukturell abgesichert und in seiner Bedeutung reduziert werden. Dafür braucht es bessere Anreize und einen besseren institutionellen Rahmen für kapitalgedeckte Vorsorge. 

Bundesministerium für Finanzen  

Die nachhaltig bedeutsamste Entscheidung von Union und SPD wurde noch vor den eigentlichen Koalitionsverhandlungen getroffen – das Aufbohren der Schuldenbremse. Seither gilt mehr denn je: Der Staat hat kein Einnahmeproblem – er hat ein Ausgabenproblem. Statt Prioritäten zu setzen und Ausgaben sowohl bei Unternehmenssubventionen als auch im Sozialbereich zu überprüfen, greift die schwarz-rote Koalition reflexhaft zum Kredithebel.  

In Summe bedeutet diese allein bis 2029 850 Mrd. Euro zusätzliche Schulden und damit ein Anwachsen der Bundesschuld um knapp 50 Prozent. Die Zinslast wird sich von aktuell knapp 30 Mrd. auf rund 60 Mrd. Euro verdoppeln und den Handlungsspielraum künftiger Regierungen massiv einschränken. Statt gezielt nur zusätzliche Investitionen zu fördern, werden systematisch Investitionen aus dem Kernhaushalt reduziert, um unbequeme Ausgabenentscheidungen nicht treffen zu müssen. Trotzdem klafft in der Finanzplanung bis 2029 eine Lücke von 172 Mrd. Euro, was Finanzminister Klingbeil bereits öffentlich über neue Steuern nachdenken lässt. Auch über ein weiteres Aufweichen der Schuldenbremse soll noch in diesem Jahr entschieden werden. Kurzum: Die Steuer- und Finanzpolitik geht bislang in die völlig falsche Richtung. 

Daran ändert auch nicht entscheidend, dass die Körperschaftssteuer für Unternehmen von 2028 bis 2032 auf 10 Prozent gesenkt wird – erfolgt dies doch zu spät und zu zaghaft. Die erhöhten Abschreibungen wurden als großer Wurf verkauft, müssen sich im Alltag aber erst noch beweisen. Die Ampel hatte ähnliche Instrumente bereits eingesetzt, sodass viele geplante Investitionen bereits getätigt wurden. Inwiefern sich allein deswegen Unternehmen nochmals zu Investitionen entscheiden, erscheint fraglich. Wichtiger für Investitionsentscheidungen in der mittleren und langen Frist ist hingegen die grundsätzliche Steuer-Standortqualität, sprich: Die Körperschaftssteuer-Reform sollte vorgezogen werden. Auch fällt negativ ins Gewicht, dass die angekündigte Stromsteuersenkung nicht für alle und damit auch nicht für viele mittelständische Betriebe kommen soll. Darüber hinaus sollte die Reform des Einkommensteuertarifs, die für die Mitte der Legislatur angekündigt ist, vorgezogen und so umgesetzt werden, dass die fatalen Arbeits-Fehlanreize durch den Mittelstandsbauch beseitigt werden. Ferner sollte der Solidaritätszuschlag, den vor allem noch mittelständische Unternehmen und Freiberufler zahlen, vollständig abgeschafft werden. Auch wäre eine Senkung der Kapitalertragssteuer auf 20 Prozent sinnvoll, um mehr privates Kapital zu aktivieren. 

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 

Das Wirtschafts- und Energieministerium hat wenig eigene Gesetzgebungskompetenz. Im Bereich Energie treibt die neue Ministerin Reiche vor allem den Gas-Kapazitätsmarkt im Umfang von 20 Gigawatt voran. Grundsätzlich ist es zwar richtig, dass Deutschland mehr grundlastfähigen Strom benötigt, jedoch sollte dies besser durch marktwirtschaftliche Instrumente wie eine Versorgungsverpflichtung der Energieversorger bei gleichzeitiger seitens des Staates garantierter Technologieoffenheit erreicht werden. Andernfalls wird auf das planwirtschaftliche Instrument der EEG-Umlage mit einer Gaskraftwerksumlage das nächste planwirtschaftliche Instrument folgen – und es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass darauf eine Energiespeicher-Umlage folgen müsste, um Investitionen in die so notwendige Stromspeicher-Infrastruktur anzureizen.

Die Senkung der Stromsteuer wurde auf den Weg gebracht – allerdings nur für das produzierende Gewerbe. Besser wäre die grundsätzliche Senkung für alle, wie es ursprünglich geplant war. Die Gasspeicherumlage soll künftig vom Bund bezahlt und die Gaskunden damit entlastet werden. Auch hier wäre eine breit wirkende Entlastung vorzuziehen. Ziel sollte es sein, dass die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung vollständig über eine Senkung der Stromsteuer und Netzentgelte an die Bürger und Unternehmen zurückgegeben werden.

Darüber hinaus sollte das Gebäudeenergiegesetz wie vereinbart ersatzlos entfallen. Auch hier sind im Koalitionsvertrag angelegte potenziell wachstumsförderliche Ideen noch nicht aufgegriffen worden.

Bundesministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung 

Kein anderes Kapitel des Koalitionsvertrages hat so viel Potenzial wie das zum Thema Bürokratieabbau. So soll die Bürokratielast für die Wirtschaft um 25 Prozent, also rund 16 Mrd. Euro reduziert werden. Es wurde ein jährliches Bürokratieabbaugesetz, die Einführung einer One-in-Two-Out-Regel für neue Gesetze, ein Praxischeck mit Vertretern von betroffenen Unternehmen vor Einführung neuer Gesetze, die Ausweitung von Genehmigungsfiktionen bei Anträgen sowie einheitliche digitale Plattformen für Bürger und Unternehmen zur Nachfrage staatlicher Dienstleistungen und eine Reduzierung des Personalbestands der Bundesverwaltung um 8 Prozent bis zum Ende der Legislatur angekündigt.  

Allein – bislang ist kaum etwas geschehen. Fairerweise muss man Minister Wildberger zugutehalten, dass er ein komplett neues Ressort aufsetzen muss und als Mann aus der Wirtschaft sicherlich mehr Eingewöhnungszeit benötigt als ein Polit-Profi. Auch sind die notwendigen strukturellen Reformen sehr dicke Bretter, die nicht im Handstreich gebohrt werden können. Trotzdem wäre es gut, wenn ein erstes Bürokratieabbau-Gesetz zeitnah kommen und erste spürbare Entlastungen mit sich bringen würde. 

Bundesministerium für Gesundheit 

Auch wenn in der Öffentlichkeit zurecht viel über die rückwärtsgewandete Rentenpolitik der Regierung gesprochen wird (s.o.), darf mit Blick auf die Sozialversicherungsbeiträge nicht vergessen werden: In der Kranken- und Pflegeversicherung sind absehbar die größten Beitragssprünge zu erwarten. Insofern liegt hier auch der größte kurzfristig greifbare Hebel, um die Beiträge wieder unter 40 Prozent zu drücken. Bislang hat Frau Warken als zuständige Ministerin lediglich auf zusätzliche Finanzbedarfe hingewiesen. Um die Kassenlage zu stabilisieren, wurden der GKV im Mai 2025 vom Bund 800 Mio. Euro überwiesen. Auch für die kommenden Jahre sind milliardenschwere Zuschüsse und Darlehen des Bundes geplant. Notwendige Reformen sind bislang nicht beschlossen, sondern sollen wie bei der Rente von einer Kommission erarbeitet werden.  

Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Primärärzte-System, das im Grundsatz das Potenzial hätte, die zu hohen Gesundheitskosten pro Kopf im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn durch eine effizientere Patientensteuerung zu senken, wurde von der Ministerin noch nicht aufgegriffen. Gleichzeitig hat sie angekündigt, die noch von ihrem Vorgänger Karl Lauterbach auf den Weg gebrachte Krankenhausreform in seiner Stringenz und damit in seiner Effizienzwirkung zu reduzieren. Auch hier drückt sich die Regierung um notwendige Strukturreformen herum.  

Diese braucht es aber, um das Gesundheits- und Pflegesystem nachhaltig finanziell zu stabilisieren. Wichtig wäre z.B., über eine geringe Eigenbeteiligung an sämtlichen Gesundheitsleistungen oder eine moderate Praxisgebühr von z.B. 10 Euro bei jedem Arztbesuch ein stärkeres Kostenbewusstsein bei den Versicherten und somit eine maßvollere Nachfrage nach medizinischen Leistungen zu erzielen. In der Pflegeversicherung wäre die Einführung eines Nachhaltigkeitsfaktors analog zur Rentenversicherung sinnvoll. Auch braucht es mehr Förderung für private Vorsorge, da die Pflegeversicherung auch in Zukunft nur eine Teilkasko-Versicherung sein kann. Auch um Leistungskürzungen wie z.B. durch die Einführung einer einjährigen Karenzzeit werden wir mittelfristig nicht herumkommen. Leider wird darüber aktuell nicht einmal diskutiert.  

Fazit 

Zusammenfassend ergibt sich das Bild einer Regierung, die große weltanschauliche Differenzen durch die neuen Schuldenspielräume überbrückt. Notwendige Strukturreformen sind nicht in Sicht, stattdessen baut sich die Hypothek eines finanziell nicht nachhaltigen Sozialstaats immer weiter auf. Die dem Anschein nach geteilte Forderung nach einem massiven Bürokratieabbau lässt sich noch nicht am tatsächlichen Regierungshandeln messen. Derweil tickt die Zeit – demografisch und durch die umfassende Schuldenaufnahme nun auch finanziell. Es bleibt zu hoffen, dass die zweiten 100 Tage dieser Regierung diesem Umstand Rechnung tragen. 

Autor:
Dr. Stefan Schöncke

Dr. Stefan Schöncke ist promovierter Ökonom. Er arbeitete mehr als fünf Jahre als wirtschaftspolitischer Referent im Bundestagsbüro von Dr. Carsten Linnemann MdB, CDU. Nach zwei Jahren als Unternehmensberater leitet er seit Anfang 2025 das volkswirtschaftliche Team der INSM.

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