"Dieses Koalitionspapier ist in seinen wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Teilen eine einzige Sünde gegen die Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft", sagt Wolfgang Clement, Vorsitzender des Kuratoriums der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, am 9. Dezember 2013, bei seiner Festrede anlässlich der Präsentation des Jubiläumsbandes „50 Jahre Wirtschaftsrat“. - "Deutschland nach der Wahl – wohin geht die Reise? Wohin sollte sie gehen?", so der Titel seiner Rede.
10. Dezember 2013
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
damit hätten Sie vor Jahr und Tag sicher auch nicht gerechnet, dass Sie es einmal mit mir als Ihrem Festredner zu tun bekommen würden. Aber so ist es – und es ist eine Tatsache, dass Befürworter der Sozialen Marktwirtschaft nicht nur in einer Partei zu finden sind oder waren. Da gibt es nun einmal – wie man im Ruhrgebiet sagt – „sonne und sonne“.
Ich selbst bin mit der wachsenden Erfahrung eines besonders von der Geschichte des Ruhrgebiets geprägten Menschen mehr und mehr auf den Pfad dieses für die Entwicklung unserer Republik bedeutendsten Politikmodells gekommen. Allerdings – um das Wortspiel fortzusetzen –, mehr „sonne“, also mehr Befürworter der Sozialen Marktwirtschaft, als zuvor finden Sie derzeit wohl kaum in unseren Parteien. Eher weniger, wie uns die Demoskopie lehrt. Und die ist wichtig, so denke ich, aber auch nicht so wichtig, dass sie die Politik und politische Führung ersetzen dürfte!
Zu Ihrem doch ziemlich stolzen Jubiläum – Ihrem außerordentlichen Engagement für die Soziale Marktwirtschaft – gratuliere ich Ihnen gern und aus voller Überzeugung. Sie haben in diesem halben Jahrhundert Spuren hinterlassen.
Ich denke zum Beispiel an Ihr nachdrückliches Eintreten für eine Schuldenbremse in den öffentlichen Haushalten, die Sie im Jahre 2005 öffentlich forderten und die übrigens EU-Kommissar Günther Oettinger damals als wohl einer der ersten Politiker in Deutschland aktiv aufnahm, um mit der seinerzeitigen Föderalismuskommission das Ziel auch tatsächlich zu erreichen.
Seit dem 1. August 2009 steht eine weitreichende Schuldenbremse für Bund und Länder in unserem Grundgesetz. Und niemand kann sie mehr wegdiskutieren, keine Regierung kann an ihr vorbei, keine dürfen wir an ihr vorbeilassen. Welch ein Segen! Gerade jetzt! Gerade heute!
Denn es gibt kein besseres Mittel gegen die öffentliche „Pump-Ökonomie“, vor der uns schon vor Jahrzehnten ein weitsichtiger Mahner wie Ralf Dahrendorf, damals leider noch vergeblich, warnte.
Es musste wohl erst die globale Finanzkrise kommen und uns zur Einsicht zwingen. Und dies ist leider eine Erfahrung, die unsereiner aus der Politik mitbringt: Prophylaktisches, vorausschauendes Handeln fällt schwer.
Gerade große Herausforderungen brauchen doch zu oft eine erhebliche „Vorglühzeit“, ehe demokratische Parteien, zumal die großen, zu den notwendigen Entscheidungen kommen. Ich sage und meine das übrigens auch durchaus aktuell: Eine Koalitionsvereinbarung bedeutet deshalb noch längst nicht aller Tage Abend, sondern ist erst die Aufforderung zum großen Tanz.
Ich bin überzeugt, Sie und wir dürfen dabei nicht abseitsstehen, sondern wir gehören mitten hinein ins politische Getümmel. Wer sonst, wenn nicht wir, steht uneingeschränkt für eine Politik der Sozialen Marktwirtschaft ein, die unser Land wieder groß gemacht und uns zu international höchstem Ansehen verholfen hat?
Mein Befund, was diese „große Koalition“ jedenfalls auf dem Papier zusammenhalten soll, fällt kritisch aus. Kurz und bündig gesagt: Dieses Koalitionspapier ist in seinen wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Teilen eine einzige Sünde gegen die Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft. Es greift ohne Not in die unternehmerische Vertragsfreiheit, in die Koalitionsfreiheit der Tarifparteien, in die Freiheit der Preisgestaltung ein, verletzt das Prinzip der Generationengerechtigkeit, womöglich sogar das Grundgesetz und missachtet hierzulande bisher zumeist respektierte Grenzen der Staatstätigkeit.
Staatsgläubigkeit triumphiert in diesem Papier über Subsidiarität, staatliche Regulierung über Eigenverantwortung. Es atmet Politikverwaltung statt Politikgestaltung und erweckt den Eindruck, die künftig Regierenden hielten „die Verteidigung des Erreichten für das Optimum des Erreichbaren“ (Heinz Kühn), statt dem Land im Angesicht großer Herausforderungen neue Perspektiven zu eröffnen. Ich nenne nur einige Beispiele, um das Gesagte zu belegen:
Sie haben anlässlich Ihres Jubiläums in einem hochinteressanten Band von Essays anerkannter Wissenschaftler ein „Deutschland im Jahr 2035“ beschrieben und wie auf dem Weg dorthin die Zukunft unseres Landes gestaltet werden sollte, damit seine Bürgerinnen und Bürger auch in gut zwei Jahrzehnten in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben können.
Wir in der INSM sehen wie Sie die Möglichkeit und die Notwendigkeit, die Zukunft zu gestalten, und setzen deshalb in unserer „Chance 2020“ auf Verändern statt Beharren, auf Reformieren statt Verwalten, kurz: darauf, die Zukunft mit ihren unverkennbaren Herausforderungen anzunehmen, statt diesen auszuweichen.
Ich sehe es so, wie Professor Clemens Fuest es bei der Vorstellung Ihres Konzeptes gesagt hat: „Zur Lösung der großen Fragen unserer Zukunft geht es nicht nur um das Gestaltenkönnen, sondern um das Gestaltenmüssen.“ Und nicht, so füge ich hinzu, um „Reformhuberei“ …
Die größte Herausforderung, vor der wir in Deutschland stehen, ist der demographische Wandel, der unser Land bereits erfasst hat. Er wird ab Mitte der 20er Jahre, wenn die noch geburtenstarken Jahrgänge aus dem Berufsleben ausscheiden, seine volle Wucht entfalten.
Aber schon heute sollten wir zur Kenntnis nehmen: Wenn wir nichts verändern, wenn wir so weiterleben und -arbeiten wie bisher, so wird unser Erwerbstätigenpotential von heute rund 45 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 27 Millionen sinken. Der Prozess ist in Gang und wird jetzt Jahr für Jahr stärker spürbar werden. Und die gegenwärtig erfreulich positive Zuwanderungsbilanz ist keineswegs garantiert langlebig, sie wird uns nicht per se aus der Kalamität helfen.
Und um dies mit ein paar Strichen noch etwas konkreter zu skizzieren:
Unsere heutige wirtschaftliche Stärke stützt sich auf drei Säulen: auf einen – noch – relativ starken industriellen Sockel, auf eine kräftige mittelständische Struktur und auf die duale Berufsausbildung. Ihr heutiger Charakter wird geprägt von einer konsensorientierten, verantwortungsvollen Tarifpartnerschaft und einem im europäischen Vergleich – noch – relativ flexiblen Arbeitsmarkt. Und sie ist von alters her auf Internationalität, auf offene Weltmärkte und auf europäische Integration angelegt. Daran – insbesondere an Letzterem – sollten nirgendwo Zweifel aufkommen dürfen, auch nicht durch eine sich wirtschaftsfreundlich gebende Partei!
Doch im Blick auf die weitere europäische Entwicklung – über die ohnedies dringend notwendige Bankenunion hinaus – und angesichts der bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai des neuen Jahres werden einige Fragen immer deutlicher zutage treten: Welches Europa ist es eigentlich, für das und um das wir streiten? Was wird aus den „Vereinigten Staaten von Europa“, wo doch immer klarer wird, wie stark der eigenstaatliche Anspruch der Mitgliedstaaten der EU und ihrer Bürger ist? Und wie wenige der bedeutenden, nur europäisch zu lösenden Aufgaben können wirklich von den europäischen Institutionen angegangen werden – nehmen Sie nur die Energiepolitik, die immer noch überwiegend mitgliedstaatlich verantwortet wird –, während die europäischen Administrationen ein Eigenleben entwickeln, immer mehr Nebensächliches regulieren und immer weniger Hauptsächliches vom Tisch bringen?
Soeben las ich in einem Essay bei „Spiegel Online“, dass die erfolgreiche Antragstellung auf EU-Fördermittel lernbar ist und dass man sich bei einer Berliner Firma als „EU-Fundraiser“ ausbilden lassen könne. Ist so das Europa, das wir wollen – ein Europa, das inzwischen mehr Rechtsakte als die nationalen Parlamente auf allen möglichen Sach- und Fachgebieten in die Welt setzt und nur noch von Experten verstanden und aufgeschlossen werden kann?
Ich hänge einer Skizze von Roman Herzog an, der schon im Jahr 2007 vor Brüsseler Fehlentwicklungen warnte, die er insbesondere in Kompetenzanmaßungen durch (oft aus nationalen Quellen gefütterte) europäische Behörden und den Europäischen Rat ohne hinreichende parlamentarische Kontrolle ortete. Herzog tritt deshalb für eine glasklare Rückkehr Europas zum Prinzip der Subsidiarität ein, für eine Beschränkung der Kompetenzen der EU auf die wichtigsten gemeinsamen Aufgaben, für eine Abschaffung aller Arten von Mischkompetenzen, für die Möglichkeit von Mitgliedstaaten, Kompetenzen per Mehrheitsentscheidung wieder an sich ziehen zu können, sowie für ein eigens zu schaffendes Gericht, das die Einhaltung der Regeln der Subsidiarität überwacht.
Konzentration auf das Wesentliche, auf Geld und Währung, auf Wirtschaft und Finanzen, auf Energie und Infrastruktur, auf mobile Arbeitsmärkte und Zuwanderung, auf Sicherheit und Außenpolitik, das ist in meinen Augen das richtige Leitmotiv für ein Europa, das derzeit immer noch die stärkste Wirtschaftsregion der Welt ist, das aber so mit sich und seinen Krisen beschäftigt ist, dass es eine ihm angemessene Rolle in der Welt nicht hinreichend spielen kann.
Das zu ändern, muss uns ein Anliegen sein. Oder wollen wir uns das Herumwursteln noch länger leisten und uns weiterhin vor unabweisbar notwendigen Vertragsdiskussionen drücken? Es stimmt doch: Dieses Europa ist unser Schicksal und das der uns nachfolgenden Generationen. Ihnen sind wir es schuldig, dazu beizutragen, dass „Old Europe“ sich endlich seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten besinnt und sie nach Kräften auch zur Geltung bringt. Eine starke deutsche Bundesregierung muss an dieser entscheidenden Weichenstellung mitwirken, nein, sie muss auf sie hinwirken und kann dazu durchaus eine Führungsrolle in Europa einnehmen!
Es ist leider wahr: Die unglaublichen Exzesse auf den internationalen, den europäischen und auch den nationalen Finanzmärkten tragen ein erhebliches Maß an Verantwortung für ein abnehmendes Vertrauen vieler Menschen in unsere Soziale Marktwirtschaft.
Doch gerade hierzulande wird dabei verkannt, dass es sehr wohl möglich ist, den zu solch schrecklichen Exzessen fähigen Kapitalismus zu bändigen. Die Soziale Marktwirtschaft gibt genau diese Möglichkeit: Sie zeigt der Wettbewerbswirtschaft anhand kartellrechtlicher, sozialer und ökologischer Grundregeln – und notfalls mit Hilfe des Strafrechts –, wo die Grenzen des Gewinnstrebens zu ziehen und dass sie zu beachten sind.
Entscheidend ist, dass diese Grundregeln verlässlich sind – und: dass auch die Marktteilnehmer verlässlich sind. Und zwar in dem Sinne, dass sie um die Bedeutung von Fairness und Selbstdisziplin, von Maß- halten und Gemeinsinn im geschäftlichen wie im gesellschaftlichen Leben wissen. Manfred Gentz, der neue Vorsitzende der Corporate-Governance-Kommission, hat dies kürzlich so formuliert: „In einer Marktwirtschaft müssen alle Unternehmen, das gilt vor allem für die großen, sich so verhalten, dass die Gesellschaft ihr Verhalten akzeptieren kann, weil es dem Bild eines ehrbaren Kaufmanns entspricht.“ Und weiter: „Wenn diese Akzeptanz verloren geht, ist das System gefährdet, und wir werden die Einschränkung der Freiheit durch den Staat erleben.“
Das trifft die Lage – und beschreibt die Gefahr. Die allgemein anerkannte Notwendigkeit einer wirksamen, kontrollierten und mit glasklaren Haftungsregeln versehenen Regulierung der wahrhaftig aus den Fugen geratenen Finanzmärkte droht, in eine allgemeine politische Bevormundungs- und Regulierungsbereitschaft umzuschlagen, die Maß und Ziel aus den Augen verliert und die die einer Marktwirtschaft notwendig innewohnenden Freiheitsräume aufs Spiel setzt. Das ist so in Europa wie zunehmend auch hierzulande zu konstatieren. Und die Sorge ist mit dem nun vorliegenden Koalitionspapier wirklich nicht aus der Welt, dass eine solch große Koalition mit ihrem Hang zur Selbstgewissheit diesen Trend noch erheblich verstärken wird.
Kurt Biedenkopf empfiehlt uns, der „Super-Koalition“ eine „Bürger-Opposition“ entgegenzusetzen. Streiten wir nicht über den Begriff. Richtig ist doch: Es gibt heute keine gesellschaftlich hinreichend starke kommunikative Kraft gegen den überhandnehmenden Trend der Etatisierung, der Bevormundung und Regulierung. Und es gibt im Parlament auch kaum noch einen Resonanzboden dafür. Darum sind Sie und sind auch wir gefordert. Wir sind auf Sie angewiesen!
Ich wünsche Ihnen im Interesse unserer Sozialen Marktwirtschaft viel Kraft und Erfolg für die nächsten 50 Jahre!